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Mutta ahnt nichts. Sie glaubt es einfach nicht. Dass “der Sozialismus zu Ende geht”. Auch nicht, als der Pfarrer ihr das prophezeit – genau ein halbes Jahr vor dem Mauerfall.

Mutta verfolgt gespannt die Nachrichten im Sommer 1989 in der DDR. Selbstverständlich guckt sie Tagesschau. Denn da erfährt sie eben am meisten. Was in Leipzig passiert, was um die Ecke in Berlin passiert. Von den Demos, den Mahnwachen, den verprügelten Demonstranten. Und sie sieht, wo die Menschen hin sind. Die Postkunden von ihrer Tour, die nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren nach dem Sommerurlaub in Ungarn. Die in der Prager Botschaft sitzen und auf ihre Ausreise warten.

Mutta denkt nicht mal im Traum daran, abzuhauen. Auch nicht 1989. Sie würde sehr gern auf so eine Mahnwache in die Berliner Gethsemanekirche fahren. Aber Mutta hat einfach zu viel Angst. Vor dem Staat. Und was da alles passieren könnte.

Also hofft sie einfach, dass alles schon irgendwie besser wird – als Erich Honecker abdankt. Und ein gewisser Egon Krenz der neue DDR-Staatschef wird. Sie stößt mit Sekt an, Mitte Oktober 89.

Gut drei Wochen später dann – als am 9. November in Berlin die Menschen tatsächlich über die Grenze in “den Westen” fahren, gehen, rennen – da geht Mutta ins Bett! Sie hat DIE Nachrichten einfach verpasst!

Aber das Radio am nächsten Morgen haut sie dann um: Die Mauer is uff! Dit is ja…! Aber Mutta geht trotzdem an diesem historischen Tag: Brav zur Arbeit. Am übernächsten Tag dann erst gönnt sie sich die erste Fahrt nach Westberlin!

Für Mutta – der Beginn eines unbeschreiblichen Jahrzehnts. Sie kann reisen – endlich! Überall hin – wo es sie hinzieht. Und das macht sie auch. Mutta holt 40 Jahre Reiseentzug nach. Das ist ihr größtes Glück!

Möglich ist das nur, weil Mutta auch an anderer Stelle Glück hat: Sie behält ihren Job. Mutta wird nicht arbeitslos, wie so viele. Vieles verändert sich – aber der Arbeitsplatz bleibt ihr. Deswegen sagt sie überzeugt: Mir ging es eigentlich immer nur besser – nach der Wende.