Meine Mutta hatte sich eingerichtet in der DDR. Was blieb ihr übrig? Aber dann plötzlich Ausnahmesituation: Mutta darf nach „drüben“ fahren – 1988. „Ein Geschenk des Himmels.“ Was sie mit dem Geschenk gemacht hat, find‘ ich heute nicht selbstverständlich.
Mutta kommt vom Land. Und zwar so richtig: Ein Dorf mit ein paar hundert EinwohnerInnen in der Uckermark. Sieht schön idyllisch aus. War aber alles andere als Idylle. Sondern eine Kindheit in der DDR mit harter Arbeit – in den fünfziger und sechziger Jahren. Für Mutta und ihre Schwester ist deshalb klar: So schnell wie möglich weg da!
Am liebsten will Mutta Kindergärtnerin werden. Aber da macht ihr die DDR einen Strich durch die Rechnung: Denn Mutta singt ahnungslos ein “klassenfeindliches Lied” mit. Und das hat ungeahnte Konsequenzen – das war’s dann erstmal mit ihrem Traumberuf.
Am Ende kommt Hilfe aus einer ganz unerwarteten Ecke. Denn eins gilt ja immer noch: Hauptsache weg da!
Jetzt ist sie also wirklich weg! Weg aus dem Heimatdorf und rauf zur Ostsee. Mutta arbeitet jetzt in einem Ferienheim für Kinder. Die katholische Kirche macht’s möglich: Das Heim wird nämlich von Nonnen geleitet. Mutta ist 16 und erstmal glücklich: Jetzt darf sie also doch noch mit Kindern arbeiten.
Und die Kirche in der DDR bietet ihr noch mehr Möglichkeiten: Neben Ferienheimen arbeitet und lernt sie auch in Behinderteneinrichtungen, Krankenhäusern. Mutta nimmt alles mal mit. Sie lebt ein paar Jahre ein bisschen wie in einer Parallelwelt in dieser Kirchen-DDR. Unterm Radar des Arbeiter- und Bauernstaats.
Da ist die Kirche zwar offiziell nicht wohl gelitten. Aber sie hat so manchen Versorgungsengpass aufgefangen.
Aber warum ist unsere Familie in so einem Land überhaupt katholisch? Und dazu noch im protestantischen Norden? Das liegt an meiner Oma. Und daran, wo sie herkam.
Aber geerbter Katholizismus hin oder her: Für Mutta ist dann nach ein paar Jahren trotzdem Schluss mit den Jobs in der Kirche. Mit Anfang 20 dann: Raus aus der Parallelwelt. Rein ins “echte Leben”.
Mit einem Bein ist Mutta noch im katholischen Heim. Mit dem anderen schon im Leben draußen. Mit Schwester und Freundinnen macht sie zum ersten Mal richtig Urlaub: Es wird DER Urlaub! Budapest und Balaton. DDR-Traumurlaub. Auch wenn die Frauen keen Jeld haben – das wird super!
Danach beginnt das “normale Leben”: Mann, Hochzeit, Kind. Liebe? Das weiß Mutta heute nich mehr so genau, ob die auch dabei war. Vielleicht. Aber nich lange. Der Frust kommt bald. Aber dafür auch Arbeit und ein Kindergartenplatz. Dass Frauen mit Kind arbeiten gehen – dit war keen Thema in der DDR! Und dass man sich scheiden lassen kann: Ooch nich! Warum also noch länger Frust schieben und ausharren? “Ab durch die Mitte!”
Mutta war ja sowieso schon alleinerziehend. Irgendwie. Sagt sie. Alles versorgen. Rennereien nach der Wohnung. Anstehen wegen allem. Beziehungen spielen lassen, “wenn de ma wat wolltest”: Tempotaschentücher, Pflaumenmus – oder ein Farbfernseher!
Zum Glück meldet sich da die Tante aus Kanada. Die guckt doch auch so gern Dallas und Denver-Clan. Und findet: Noch schwarz-weiß gucken? Das geht auf keinen Fall! Leider findet die Stasi die Briefe der Tante auch ganz schön spannend… Am Ende ist es aber wie Weihnachten im Herbst. Und Mutta steht mit kanadischen Dollars im Intershop!
Insgesamt wurschtelt sich Mutta ziemlich erfolgreich durch ihren DDR-Alltag. Klar! Ihr Motto ist ja auch: “Wenn de musst, musste!”
Muttas alte Schulzeugnisse bescheinigen ihr “ein gutes Verhalten in der sozialistischen Produktion”. Aber sie ordnet sich nicht immer “dem Klassenkollektiv unter”. Mutta ist auch öfter “inaktiv” was die gesellschaftliche Arbeit angeht.
Das hat die Lehrerin ganz gut getroffen. Bis heute ist Mutta gern für sich und lässt die Gesellschaft gern Gesellschaft sein. Und zwar am liebsten mit einem dicken Buch in der Hand. Schon zu DDR-Zeiten liest sie, was ihr zwischen die Finger kommt: Kitschromane und Shakespeare. Christliches und Sozialistisches.
Das war schon immer so: Lesen is besser als reden. Und beides hat sie wohl von ihrer Mutter gelernt. Die war auch belesen und verschwiegen. Das war “eisernes Gesetz” zu Hause – über persönliche Dinge wurde nicht gesprochen. Schon gar nicht, wenn sie unangenehm waren. Deshalb haben Mutta und ihre Schwester auch gar nicht erst gefragt: Wer denn eigentlich ihr Vater ist? Und warum der gar nicht bei ihnen lebt?
Auf Fragen gibt es eh keine Antworten. Also spielt Mutta Sherlock Holmes und sucht sich selber ihre Antworten. Und findet sie auch: Ein Zahlungsabschnitt über den Unterhalt klärt alles auf. Jetzt ist auch klar, warum dieser Mann aus dem Dorf öfter mit Bonbons auf sie wartet…
Muttas Mutter muss dann unfreiwillig noch ein Geheimnis lüften. Und findet das ziemlich furchtbar. Geheimnisse bewahren und schweigen: Das ist wahrscheinlich eine deutsch-deutsche Lektion, die Mutta hier lernt. Und so gar nicht einzigartig ostdeutsch. Sondern so ein Generationending.
Mutta lernt die Lektion so gut, dass sie die später auch selbst gern anwendet.
Mutta ist als Omi genauso kinderverliebt wie als junge Frau.
Auch früher ist ihr immer schon klar: Kinder, also eigene Kinder: Die gehören zu ihrem Leben dazu. Auf jeden Fall will sie mehr als eins haben. Das Leben als Alleinerziehende in der DDR schreckt sie nicht ab.
Auch nicht, nachdem “dit mit dem ersten Kerl” gar nicht geklappt hat. Und sie ein paar Jahre allein mit ihrem Sohn durchkommen muss. Dann lernt sie doch noch jemanden kennen.
Mit dem Neuen ist es erst ganz schön. Dann aber schnell nicht mehr. Nur: Ein Kind will Mutta trotzdem haben. Obwohl sie weiß: Das mit dieser Beziehung – das wird nix. Verkorkst ist die sowieso. Denn Mutta muss in der Zeit einen Schicksalsschlag verkraften, der ihr viel abverlangt. Und damit muss sie ganz allein klar kommen…
Da ist sie umso glücklicher, als sie dann wieder schwanger ist. Alleinerziehend, mit zwei Kindern stürzt sich Mutta in den DDR-Alltag. Und in ihren neuen Job: Zustellerin bei der Post.
Mutta macht Führerschein, obwohl sie meint: “Ich kann das doch gar nicht!” Sie kämpft sich durch harte Winter und geht auf Zustellung mit nem kranken Kind. Und sie legt sich – mal wieder – mit dem Staat an. Im Kleinen dieses Mal – mit ihrer Chefin, die ja auch in “der Partei” ist…
Der Job bei der Post wird Muttas letzter Job bleiben. Der bringt sie über die Wende und macht den Übergang von DDR zu BRD weniger beunruhigend.
Mutta ahnt nichts. Sie glaubt es einfach nicht. Dass “der Sozialismus zu Ende geht”. Auch nicht, als der Pfarrer ihr das prophezeit – genau ein halbes Jahr vor dem Mauerfall.
Mutta verfolgt gespannt die Nachrichten im Sommer 1989 in der DDR. Selbstverständlich guckt sie Tagesschau. Denn da erfährt sie eben am meisten. Was in Leipzig passiert, was um die Ecke in Berlin passiert. Von den Demos, den Mahnwachen, den verprügelten Demonstranten. Und sie sieht, wo die Menschen hin sind. Die Postkunden von ihrer Tour, die nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren nach dem Sommerurlaub in Ungarn. Die in der Prager Botschaft sitzen und auf ihre Ausreise warten.
Mutta denkt nicht mal im Traum daran, abzuhauen. Auch nicht 1989. Sie würde sehr gern auf so eine Mahnwache in die Berliner Gethsemanekirche fahren. Aber Mutta hat einfach zu viel Angst. Vor dem Staat. Und was da alles passieren könnte.
Also hofft sie einfach, dass alles schon irgendwie besser wird – als Erich Honecker abdankt. Und ein gewisser Egon Krenz der neue DDR-Staatschef wird. Sie stößt mit Sekt an, Mitte Oktober 89.
Gut drei Wochen später dann – als am 9. November in Berlin die Menschen tatsächlich über die Grenze in “den Westen” fahren, gehen, rennen – da geht Mutta ins Bett! Sie hat DIE Nachrichten einfach verpasst!
Aber das Radio am nächsten Morgen haut sie dann um: Die Mauer is uff! Dit is ja…! Aber Mutta geht trotzdem an diesem historischen Tag: Brav zur Arbeit. Am übernächsten Tag dann erst gönnt sie sich die erste Fahrt nach Westberlin!
Für Mutta – der Beginn eines unbeschreiblichen Jahrzehnts. Sie kann reisen – endlich! Überall hin – wo es sie hinzieht. Und das macht sie auch. Mutta holt 40 Jahre Reiseentzug nach. Das ist ihr größtes Glück!
Möglich ist das nur, weil Mutta auch an anderer Stelle Glück hat: Sie behält ihren Job. Mutta wird nicht arbeitslos, wie so viele. Vieles verändert sich – aber der Arbeitsplatz bleibt ihr. Deswegen sagt sie überzeugt: Mir ging es eigentlich immer nur besser – nach der Wende.
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